„Energiehauptstadt Europas werden“

Gespräch mit Tom Lange

„Energiehauptstadt Europas werden“

Im Zuge der Energiewende steht Berlin vor großen Aufgaben, kann dabei aber auch Chancen nutzen. Ein Gespräch über Energiehunger, erste Schritte und langfristige Perspektiven mit dem Regionalverbandsvorsitzenden Tom Lange, der beim Energieunternehmen Enertrag in Deutschland die Projekte Wind und Photovoltaik leitet.

Herr Lange, Berlin und Brandenburg haben auf den ersten Blick eine klassische Rollenverteilung: Die energiehungrige Metropole versucht, aus dem Umland ihren Bedarf zu decken. Ist es so einfach?

Nur bei grober Betrachtung. Einerseits verbraucht Berlin viel mehr Energie als Brandenburg bislang zur Verfügung stellen kann. Dort, im direkten Umfeld der Bundeshauptstadt, siedeln außerdem verstärkt Industrien an, die ebenfalls erneuerbare Energien nachfragen. Die Konkurrenz nimmt zu. Daraus ergibt sich mit Blick auf die Ziele einer nachhaltigen Versorgung die Notwendigkeit, auch innerhalb der Stadtgrenzen erneuerbare Energien in möglichst großem Umfang zu gewinnen. Potenziale dafür sind vorhanden. Auch das wird zwar nicht ausreichen. Berlin hat aber gegenüber anderen europäischen Metropolen einen Vorteil: Anders als etwa rund um Paris, sind die Potenziale zur Erzeugung erneuerbaren Energien nicht nur Brandenburg erheblich, sondern auch darüber hinaus. Auch im nördlich angrenzenden Mecklenburg-Vorpommern können große Flächen mit Windenergie- und Photovoltaikanlagen bebaut werden. Wenn Berlin sein Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden, erreichen will – und das möglichst auf regionaler Basis –, müssen wir den Metropolenraum entsprechend größer definieren.

Ein Blick auf die Möglichkeiten innerhalb der Stadt. Seit Januar 2023 gilt in Berlin die sogenannte Solarpflicht. Geht das Gesetz weit genug?

Das Gesetz sieht die Nutzung eines Anteils von 30 Prozent der Dachfläche für Photovoltaik-Anlagen vor. Es gilt für Wohngebäude als auch für Gewerbe und Industrie, im Fall einer Dachsanierung auch für den Bestand. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch es gibt nach wie vor Hürden. Nach heutigem Stand ist etwa im Bestand eine extra Baugenehmigung für die Nachrüstung mit PV vorgeschrieben. So verlieren Gebäude ihren Bestandsschutz bei den Brandschutzanforderungen, welche aufgrund der Nachrüstung von PV auf den neuesten Stand gebracht werden müssen, obwohl die PV-Anlage dies gar nicht notwendig macht. Ohne eine Anpassung der Brandschutzauflagen können Gebäude, die höher sind als 22 Meter, bisher praktisch nicht mit PV-Anlagen nachgerüstet werden. Das betrifft vor allem Mehrfamilienhäuser mit einem großen Potenzial für Mieterstrom, aber auch Verwaltungsgebäude. Die Landesbauordnung müsste auch mit Blick auf die Brandschutzabstände zur Brandschutzwand angepasst werden. Für Photovoltaik wäre es angemessen, den Abstand von 1,25 auf maximal einen halben Meter zu verringern.

Im Februar 2023 hat der Senat planungsrechtliche Grundlagen für die Genehmigung von Windenergieanlagen auf Dächern veröffentlicht. Ist Berlin damit auf einem guten Weg?

Die planungsrechtlichen Grundlagen sind ein guter erster Schritt, beziehen sich aber auf eine Nische, wenn man sich die Möglichkeiten für Windkraft in Berlin anschaut. Dieser Ansatz muss also auch über das Thema Dach hinaus verfolgt werden. Das Windenergieflächenbedarfsgesetz, kurz WindBG, gibt den Bundesländern generelle Flächenziele vor. Berlin muss demnach bis Ende 2027 ein Viertel Prozent und bis Ende des 2032 ein halbes Prozent seiner Landesfläche für den Ausbau ausweisen. Auf Dächern allein lässt sich das nicht realisieren. Eine Machbarkeitsstudie mit Blick auf weitere Potenziale wäre hilfreich.

Wo sehen sie in Berlin Perspektiven für Windkraft?

Windenergieanlagen können zum Beispiel auch dort errichtet werden, wo ursprünglich keine Fläche für sie vorgesehen wurde. Hierfür kommen insbesondere Industrie- und Gewerbegebiete infrage. Die sechs Berliner Windenergieanlagen stehen teils in Gewerbegebieten. Man sollte überprüfen, ob es in den bestehenden Berliner Flächennutzungsplänen weitere Potenziale für die Windenergie gibt – insbesondere in Industrie- und Gewerbegebieten, die das Land eigenständig erschließen kann. Darüber hinaus sollten möglichst viele der als Windvorrangfläche ausgewiesenen Potenziale genutzt werden. Theoretisch denkbare Konflikte mit Wohnbebauung, die manche vorbringen, lassen sich lösen: Werden weitere Räume für den Ausbau von Wohnfläche benötigt, können Windenergieanlagen nach Ablauf des vereinbarten Pachtvertrags vollständig zurückgebaut werden. Mit solchen Angeboten, gekoppelt mit PV auf Dächern und an Fassaden – aber auch mit dem konsequenten Ausbau der Geothermie –, kann Berlin als Wirtschaftsstandort punkten. Die Nachfrage nach klimafreundlicher Energie seitens Unternehmen ist groß.

Wie muss Berlin sich mit Brandenburg und dem noch weiteren Umfeld vernetzten, um seinen enormen Bedarf zu decken?

Da gilt es, klassische Aufgaben der Energie-Infrastruktur zu lösen: Leitungen und Netzanschlusspunkte müssen den Input von den dezentralen Erzeugern im Umland bündeln, nach Berlin transportieren und dort an die Verbraucher verteilen. Eine interessante Rolle können abgesehen davon die Berliner Stadtgüter spielen. Die Berliner Stadtgüter sind eine städtische Immobiliengesellschaft, die rund 16.600 Hektar in Brandenburg bewirtschaftet. Das entspricht einer Fläche, die fast so groß wie der Bezirk Treptow-Köpenick ist. Schon jetzt werden dort Flächen vermietet und verpachtet, unter anderem für regenerative Energieerzeugung. Laut WindBG dürfen Stadtstaaten wie Berlin übrigens bis zu 75 Prozent ihrer Flächenbeitragswerte an andere Länder abgeben. Falls Berlin seine Ziele nur durch Flächenhandel erreichen kann, sollte mit Brandenburg und/oder mit Mecklenburg-Vorpommern ein Staatsvertrag formuliert werden. Das sollte natürlich nicht auf einen Ablasshandel hinauslaufen. Wir dürfen uns nicht um die gesetzten Ziele drücken. Berlin benötigt jede Fläche, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Im Sinne der Energiewende und zur Vermeidung doppelter Arbeit sollte man sich dabei direkt am Zielwert für 2032 orientieren. Wenn die Metropole Berlin ihre Chancen nutzt, kann sie zur Energiehauptstadt Europas werden – nicht mehr „arm, aber sexy“, sondern „sexy, weil grün“.

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